Ein Beitrag zur Blogparade von Susanne Burzel: Meine / Unsere Geschichte mit Hochbegabung.
Ein schmutziges kleines Geheimnis
Hochbegabung ist ein sensibles Thema. Und ein stigmatisiertes. Susanne Burzel hat Recht, wenn sie schreibt: „Jede einzelne Geschichte von hochbegabten Menschen ist interessant. Sie trägt dazu bei, Stigmatisierungen abzubauen und den Blick für dieses sensible Thema zu öffnen.“
Trotzdem fiel es mir schwer, mich an diese Blogparade heranzuwagen. Über meine eigene Hochbegabung zu schreiben, fühlt sich vermessen an. Denn sie ist nicht formal belegt. Ich habe zwar aus Interesse ein paar IQ-Tests gemacht, aber bin kein Mensa-Mitglied – das fände mein Mann, der selbst ziemlich sicher hochbegabt ist, ohnehin affig. Ich müsste mich also heimlich anmelden oder den Spott aushalten.
Aber genauso ist es doch mit der Hochbegabung: Wenn man sie nur an sich selbst entdeckt, dann ist sie wie ein schmutziges kleines Geheimnis.
Zwischen Bravo und Spektrum
In der Schule lernt man schnell: Wenn man dazugehören will, muss man sich für gute Noten anstrengen – oder zumindest so tun. Man gibt nicht zu, dass man lieber Spektrum der Wissenschaft als Bravo liest. Und das diffuse Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, erklärt man sich selbst mit einem inneren Makel: Mit mir stimmt etwas nicht.
Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zur Hochbegabung. Einerseits bin ich dankbar, dass mein Gehirn sich so eifrig auf alles stürzt, was auch nur im Entferntesten interessant ist. Andererseits frage ich mich: Warum fällt mir immer so viel auf? Warum will ich alles wissen? Warum braucht mein inneres Pferd– ich habe es Areion getauft, nach dem sagenhaften Hengst aus der griechischen Mythologie – so verdammt viel Auslauf? Und wie zum Teufel soll es gehen bei diesen ständigen Sprüngen nicht vom Pferd zu fallen?
Areion ist mein intellektueller Seelenanteil. Fabelhaft schnell, klug, kraftvoll. Aber auch überfordert. Lange hat er versucht, Probleme zu lösen, für die er gar nicht geschaffen ist – und sich dabei fast zu Tode gehetzt. Es hat lange gedauert, ihn zu entlasten. Der Prozess läuft noch.
Oder weniger bildhaft: Ich bin ein absoluter Overthinker. Kontrollsüchtig. Zermürbend rational. Und gleichzeitig auf der Suche nach Wahrheit.
Schulzeit: Zwischen Radiergummi und Buchhandlung
In der Grundschule war ich unauffällig. Durchschnittliche Noten. Viele Zweien. Das Schönschreiben fiel mir schwer, die Heftführung auch. Das textile Werken war der Horror – ich habe bis heute ein Stricktrauma.
Ich war pferdeverrückt, träumte viel, und hatte kein Gefühl dafür, wie „Mädchen sein“ funktioniert. Während viele aus meiner Klasse auf die Realschule wechselten – adrett, sozial sicher, angepasst – wollte ich unbedingt aufs Gymnasium. Der Lehrer sah das anders: „Auf dem Gymi muss man sich anstrengen.“ Meine Eltern setzten sich durch.
Auf dem Gymnasium musste ich mich selten anstrengen. Aber Heftführung blieb ein Drama – meist panisch auf den letzten Drücker, mit geliehenen Heften einer Freundin. Deadlines? Eine Zumutung. Kunstprojekte? Manchmal übernahm meine Mutter.
Und doch: Ich liebte jedes neue Schuljahr. Besonders das Abholen der Schulbücher aus der Buchhandlung. Ich durfte sie oft selbst besitzen – und las sie begeistert schon in den Sommerferien. Ja, wirklich. Manche Einbände sind mir heute noch im Gedächtnis – zum Beispiel die Haselmaus auf dem orangenen Biologiebuch der 5. Klasse. Außerhalb der Schule traf man mich sowieso nie ohne ein Buch an.
Ich hatte zu Jahresbeginn also schon ein ‘Best Of’. Und war enttäuscht, wenn der Lehrplan meine Lieblingsstellen einfach übersprang. Wenn ich keinen Zugang fand – wie in Mathe mit dem „Grasdackel“-Lehrer – sanken die Noten. Ein anderer meinte, er sei überrascht, dass ich gut in Physik sei, wo ich doch „für Mathe nicht tauge“. Allgemein beteiligte ich mich nicht gern am Unterricht. Da war die Langeweile. Ich hatte aber auch ein stressiges Familienleben, war ziemlich übergewichtig und erreichte die klassischen Teenager Milestones nicht zu meiner Zufriedenheit: Klamotten und Makeup, erster Freund, Partys und Alkohol. Meine Bewältigungsstrategie: gelebte Unsichtbarkeit. Dieser Blog ist der Gegenwurf. Hat ja nur 25 Jahre gedauert.
Mathematischer Höhenflug in Oregon
Mit 16 verbrachte ich ein Austauschjahr in Oregon. Um in Deutschland die 11. Klasse nicht wiederholen zu müssen, brauchte ich dort Differenzialrechnung. Das gab es nur als AP Calculus – ein Unikurs in Mathe, 90 Minuten täglich. Ich kam mit Lücken – und musste alles auf Englisch lernen.
Nach zwei Wochen wollte ich aufgeben. Doch mein Lehrer überzeugte mich zu bleiben. Und dann geschah es: Ich verliebte mich unsterblich in die Mathematik. The rest is history.
Zurück in Deutschland wollte ich nicht noch einmal von vorn anfangen. Der Oberstufenleiter sah das anders. Also absolvierte ich probeweise den letzten Monat der 11. Klasse. Es war befreiend. Ein Jahr Stoff in vier Wochen? Challenge accepted. „Nathan der Weise“ in zwei Tagen und dann Klassenarbeit? Gerne.
Um zwei Jahre Oberstufe kam ich aber nicht herum, wählte Chemie und Mathe als Leistungskurse, schloss mit dem zweitbesten Abi ab -der Notenknoten war geplatzt– aber in meinem Kopf war ich schon weiter.
Zwischen Raumfahrt und Burnout
Ich studierte Mathematik, promovierte am Institut für Luft- und Raumfahrttechnik, arbeitete als wissenschaftliche Programmiererin und später in einem Startup. Mit der Zeit wurde die Luft dünner – je höher man kommt, desto normaler ist Hochbegabung. Sie fällt irgendwann nicht mehr auf.
Ich bekam Kinder. Dann Long Covid. Ich möchte hier nicht im Detail darauf eingehen – nur so viel: Ich habe mich entschlossen, etwas radikal Neues zu tun. Programmieren macht mir noch immer Spaß. Aber es passt im Moment nicht mehr.
Hochbegabt, aber nicht hochgeflogen?
Hat mir meine Hochbegabung geholfen? Ja. Ich habe sie gebraucht. Genutzt. Aber sie hat mir kein Leben im Höhenflug beschert. Intellektuelle Begabung allein macht niemanden zum Überflieger. Ich habe ein riesiges Impostor-Syndrom – mittlerweile glaube ich: Das ist ein Zeichen von Intelligenz.
Mein Mann und ich sagen oft: Wir haben wohl die falschen Sachen geglaubt. „Sammle Qualifikationen, dann bist du sicher.“ Nein. So eine Sicherheit gibt es nicht – zumindest nicht in Form eines lebenslangen Angestelltenverhältnisses. Das ist wohl sowieso naiv. Und ich habe vor vier Jahren meine sichere Stelle gekündigt – auch, weil mir langweilig war. Da geht doch noch was. Ich wollte eine Herausforderung. Das Leben lieferte: Startup. Long Covid. Neuanfang. Die Einzelteile meines explodierten Lebens fallen immer noch um mich herum zu Boden.
Fazit: Ich bin hier, um Erfahrungen zu machen
Ich glaube mittlerweile, dass ich hier bin, um Erfahrungen zu machen. Manchmal sind sie wunderbar. Manchmal zerbricht man fast daran.
Und da ist eben noch so eine Kehrseite der Hochbegabung: der innere Leistungsdruck, dass man ein Talent nutzen muss, wenn es einem geschenkt ist. Ich habe lange versucht, dem gerecht zu werden – aber das letzte Jahr hat mir die Auszeit gegeben, sanft dagegen zu rebellieren. Da kommen wir ganz schnell dazu, was ein Leben eigentlich lebenswert und sinnvoll macht. Mein rationaler Verstand und meine Intuition (in meiner Bildsprache ein Eichhörnchen) sind sich mittlerweile einig, dass wir alle um unserer selbst willen wertvoll sind. Wir müssen uns unseren Wert nicht erarbeiten. Weil wir – um es in den Worten von Alan Watts zu sagen – “die Augen des Universums” sind.
Areion jedenfalls galoppiert wieder. Das ist sein Wesen und er braucht es um glücklich zu sein. Also bleibt mir ja nur in den leichten Sitz zu gehen und den Ritt zu geniessen.
Wow, liebe Konstanze, ich bin tief berührt von deinem Blogbeitrag zu meiner Blogparade. Hab vielen Dank, dass du darüber geschrieben hast, es ist eine Offenbarung für mich. Es zeigt die Tragik von hochbegabten Mädchen, die unterschätzt werden und das Gefühl, anders zu sein und nicht dazu zugehören. Du hast Vieles erlebt und letztendlich bleibt auch für uns Hochbegabte nur eine Frage: Was macht uns glücklich? Fernab von dem Druck, leisten zu müssen, weil man ja eben hochbegabt ist.
Ich danke dir von Herzen für diesen Einblick, der sicher in mir nachwirken wird.
Alles liebe, vor allem auch für deine Gesundheit. Und genieß den Ritt in die Freiheit!
Susanne
Liebe Susanne,
vielen Dank für deinen so wertschätzenden Kommentar. Da kommen mir echt die Tränen.
Es hat tatsächlich diese Krankheit gebraucht um festzustellen, dass ich auch einfach ich sein könnte.
Anfangs dachte ich es würde besser werden im Berufsleben. Da musste ich mich intellektuell nicht mehr verstecken, das stimmt. Aber statt dessen spuckte mir in meinem extrem maskulinen Arbeitsumfeld dann eben die Hochsensibilität in die Suppe.
Gegen die habe ich mich natürlich lang gewehrt, denn das hörte sich doch stark nach Schwäche an- tut es nicht mehr. Armer Areion, da musste er plötzlich fast noch mehr kompensieren.
Liebe Konstanze, ich finde mich in sehr vielem wieder , was du schreibst. Bis auf die Begeisterung für Pferde 😉
Bei mir wurde es ein Chemiestudium, aber die Liebe zur Mathematik ist auch da, genauso wie das Overthinking und das sehr zwiegespaltene Gefühl der eigenen Hochbegabung gegenüber.
Ich freue mich, dass du für dich deinen Platz und deine Aufgabe gefunden hast. Ich bin überzeugt, dass wir uns nicht von unseren Abschlüssen diktieren lassen müssen, was wir letztendlich beruflich machen. Aber bis ich dahin kam, hat es auch bei mir etwas gedauert.
Liebe Grüße
Angela